Dies war die erste Nacht, welche Jules in Jennys Zimmer verbrachte. Sie hatte sich dagegen gesträubt in dieses Zimmer zurückzukehren. Es war der Ort, an dem dieser Alptraum seinen Anfang genommen hatte. Sie mochte das Zimmer nicht. Es war nicht ihr Zimmer, sondern Jennys. Im Krankenzimmer konnte sie, sich vorstellen, dass alles nur ein böser Traum war. Am liebsten wäre sie nie mehr in dieses Zimmer zurückgekehrt, sondern bis zu ihrer hoffentlich baldigen Entlassung im Krankenzimmer geblieben. Aber Doktor Schmidt meinte, es sei nun an der Zeit für sie sich wieder in die Gemeinschaft zu integrierten. Dazu gehöre es, dass sie wieder in „ihr“ Zimmer einzog. Als Doktor Schmidt ihr das mitteilte, weinte sie bitterlich, doch letzten Endes hatte sie kein Mitspracherecht. Hilflos fügte sie sich dem Entschluss.
Jules hatte sich in der Anstalt bereits ein wenig eingelebt. Obwohl die Pfleger sie weiterhin Jenny nannten, hatten diese viel Verständnis dafür, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Inzwischen fragte keiner der Betreuer mehr nach, ob sie sich wirklich an nichts mehr erinnern konnte. Bereitwillig erklärten sie Jules alles, was Jenny wissen sollte, von Neuem.
Als sie vor wenigen Stunden von der Krankenstation zurück in Jennys Zimmer kam, erklärte Doktor Schmidt ihr einige wichtige und triviale Informationen zu ihrem Zimmer. Sie zeigte ihr einen Knopf, den sie betätigen konnte, falls es einen Notfall gab. Der Raum hatte einen abgetrennten Sanitärbereich mit einem Klo und einer Dusche. Wie ihr Doktor Schmidt erzählte, war dieser nachträglich eingebaut worden. Daher befand sich das Spülbecken neben der Tür und nicht im Sanitärbereich. Über dem Spülbecken gab es eine verspiegelte Metallplatte. Einen richtigen Spiegel gab es nicht, da dieser zu gefährlich war. Leicht konnten Spiegel kaputt geschlagen und die Scherben als Waffen gegen Fremde oder sich selber verwendet werden. Jules war es schleierhaft, weshalb ihr das beim ersten Mal nicht aufgefallen war. Als sie Jennys Gesicht anstatt ihr eigenes im Spiegel gesehen hatte, war sie zu verstört gewesen. Das Spiegelbild in der Metallplatte war verzogen, weniger scharf und dunkler als bei einem richtigen Spiegel.
Die Poster, welche sie beim Erwachen gesehen hatte, waren vor ihrer Rückkehr entfernt worden. Darüber war Jules sehr dankbar. Insbesondere die Verzierungen auf den Tieren fand Jules sehr verstörend. Hunden, Katzen und anderen Tieren waren mit schwarzem Edding das Skelett anatomisch korrekt nachgezeichnet worden. Bei anderen Postern waren wahllos Insekten, Spinnen und andere seltsame Zeichen zugeschmiert. Ohne die Poster war das Zimmer viel wohnlicher. Doktor Schmidt versprach ihr, dass sie das Zimmer nach ihren Vorstellungen dekorieren könne. Zusätzlich hatte sie ihr einige Bücher hingelegt, die Jules lesen konnte. Jules hatte Doktor Schmidt von ihrer Bücherliste erzählt. Als Jules die Bücher durchging, stellte sie erfreut fest, dass sich darunter einige Bücher befanden, die Jules vorgehabt hatte zu lesen.
Am vorhergehenden Tag hatte sie versucht, ihre Mutter und danach David telefonisch zu erreichen. Aber niemand nahm ab. Gerne hätte sie ihnen eine Nachricht hinterlassen, aber es klingelte immer weiter, ohne dass der Anrufbeantworter kam. Und was hätte sie auch sagen sollen? Mutter, ich habe eine andere Stimme und Körper, aber ich bin in einer Anstalt und du musst mich hier rausholen? Das war eher ein Gespräch, das man direkt führen sollte.
Sie hatte Doktor Schmidt viele Personen angegeben, an die sie sich erinnern konnte. Ihre Mutter, David, Personen von ihrem Arbeitsplatz und andere Freunde. Jules gab die Hoffnung nicht auf. Sie war überzeugt, dass sie ihre Liebsten mit ihrem Wissen über sie, sich selbst und gemeinsamen Erinnerungen davon überzeugen konnte, dass sie nicht Jenny, sondern Jules war. Sie musste nur genügend glaubwürdige Zeugen finden, die Doktor Schmidt davon überzeugen würden, dass sie Jules war,
Jules lag in ihrem weichen Bett und dachte an den kommenden Tag. Morgen um sieben Uhr würde in diesem Raum das Licht angehen. Dann hatte sie fünfundvierzig Minuten Zeit sich zu waschen, anzuziehen und das Bett zu machen. Danach würde sie von einer der Betreuerinnen abgeholt werden. Die Betreuerin würde sie dann zum Frühstücksraum begleiten, dort würde sie frühstücken und würde das erste Mal andere Patienten kennenlernen. Davor fürchtete sich Jules, noch mehr Leute, die sie für Jenny hielten. Anschliessend musste sie unter Beaufsichtigung ihre Medikamente einnehmen. Doktor Schmidt hatte ihr erklärt, dass sie diese Woche Küchendienst haben würde. Dies bedeutete, dass sie nach dem Frühstück helfen musste aufzuräumen. Anschliessend durfte sie im Kunstraum malen, dann Mittagessen, Einzeltherapie, Gemeinschaftszeit, Abendessen und Einzelzeit auf dem Zimmer bis sie schlafen musste. Das würde ihr ganzer Tag sein. In Gedanken spielte Jules den Ablauf immer und immer wieder durch bis sie einschlief.
Jules trat gerade in den Speiseraum. Sie war nervös, ihre Hände schwitzten. Die Betreuerin sagte ein paar aufmunternde Worte, die Jules nicht wirklich wahrnahm. Sie wusste gar nicht, weswegen sie nervös war. Sie wollte hier keine Freunde finden. Sie wollte nur so schnell wie möglich wieder hier raus.
Verlegen schaute sie sich um. „Hey Jenny“, eine junge Frau mit kurzen roten struppigen Haaren winkte ihr zu: „Komm setz dich zu uns!“ Neben der Rothaarigen sass eine weitere unscheinbar wirkende junge Frau. Jules nickte den Frauen freundlich zu, lief zum Tresen hin und musterte ein wenig enttäuscht die Auswahl. Müsli, Brot, Butter, Marmelade, Äpfel und Orangensaft. Was hatte sie erwartet? Eier Benedict? Sie nahm sich dort eine Schale Müsli, füllte diese mit Hafermilch und schaute sich im Raum kurz um. Im Essraum gab es zehn Tische. An einigen sass niemand. Jules wollte schon einen leeren Tisch ansteuern, als sie sich kurzerhand umentschied und zu den beiden Frauen ging, die sie vorhin angesprochen hatten. Es konnte nicht schaden, herauszufinden, wer Jenny war.
Jules streckte den Rücken durch und ging zu diesen zwei Frauen. Sie setzte sich zu ihnen und musterte die beiden neugierig. Waren dies Jennys Freundinnen? Oder sind sie neugierig auf den neuesten Tratsch, der wohl sie selbst sein musste. Die junge Frau mit den roten Haaren wirkte fröhlich und aufgestellt. Aus welchem Grund sie wohl in der Anstalt war? Sollte sie sich überhaupt mit Leuten hier anfreunden? Oder würden diese sie nur herunterziehen? Sie wollte, so schnell wie möglich hier raus kommen. Vielleicht war es besser, sich nicht mit jemanden anzufreunden.
„Ist es wirklich wahr? Kannst du dich dieses Mal wirklich an nichts mehr erinnern? Oder tust du nur so?“ Die Rothaarige schaute verstohlen nach links und rechts, ganz so, als wollte sie noch etwas hinzufügen, aber sie liess es sein.
Jules nickte zögernd, unschlüssig, was sie erwidern sollte. Sie konnte sich an nichts aus Jennys Leben erinnern, da sie nicht Jenny war. Aber für die Leute hier kam es auf das Gleiche hinaus: „Ja, es ist wahr, ich kann mich wirklich an nichts mehr erinnern.“ Dabei griff sie nach ihrem Löffel und tauchte diesen in die Müslischale. Möglichst ungezwungen fragte sie die beiden: „Wie heisst ihr?“
„Ich heisse Betti“, die Frau mit den roten Haaren zeigte auf sich selber und zwinkerte Jules dabei zu, dann auf die Frau neben sich: „Das ist Lina.“ Lina nickte Jules zögerlich zu und schwieg weiterhin.
Jules nickte den beiden zu: „Freut mich.“
„Lina spricht nicht“, erklärte Betti. „Darum bin ich mit ihr befreundet, niemand kann so gut zuhören und Geheimnisse für sich behalten wie Lina.“ Jules schaute zu Lina, die demonstrativ mit den Augen rollte. Ein kleines Schmunzeln stahl sich auf Jules Gesicht.
„Du hast heute Küchendienst, hat uns die Betreuerin erzählt?“, plapperte Betti weiter, ohne wirklich auf Jules oder Lina zu achten, und zog einen kleinen Schmollmund. „Voll schade, dass wir nicht mehr in der gleichen Gruppe sind, Lina und ich müssen heute die Böden wischen. Ich habe die Betreuerinnen gebeten, dich wieder bei uns einzuteilen, aber sie sagten, dass sie das bewusst nicht gemacht haben. Vielleicht fragst du die Betreuerinnen? Schliesslich sollte ja ihr Ziel sein, dass du möglichst schnell wieder die Alte bist.“
Jules zuckte mit den Achseln. Es machte für sie nicht so einen Unterschied, mit wem sie nun was zusammen machte. Sie waren alle fremd und wenn sie hier waren, hatten sie einen kleinen oder grösseren Schaden. Ihr Ziel war nicht, wieder zu Jenny zu werden. Es wird wohl seine Gründe gehabt haben, warum sie hier gelandet war. Jules wollte zurück in ihr altes Leben und nicht in Jennys. Sie würde nicht lange genug hierbleiben. David würde sie finden und befreien. Als Betti sie weiterhin ununterbrochen erwartungsvoll anschaute, wie ein Hund, der auf sein Lieblingsspielezeug wartete, fragte Jules: „Bist du heute in der Maltherapie?“ Es kann nicht schaden, ein wenig Small Talk zu machen.
„Maltherapie? Du verabscheust Maltherapie!“, zischte Betti. „Was willst du dort?“ Aufgebracht klopfte Betti mit den Händen auf den Tisch. Trotz dem, dass Bettis Beine unter dem Tisch versteckt waren, konnte Jules an Bettis bebenden Körper sehen, dass diese unkontrolliert mit ihrem Bein auf und ab wippte musste.
Jules zuckte defensiv mit den Schultern. „Doktor Schmidt meinte, ich soll verschiedene Dinge ausprobieren.“
„Doktor Shit sagte…“, äffte Betti sie mit gedämpfter Stimme nach. Dabei verzog sich Bettis Gesicht zu einer Fratze und Jules bereute es, sich zu ihnen gesetzt zu haben. Jules schaute zu Lina, die sich nicht von Bettis Emotionen beeinflussen liess und seelenruhig ihr Müsli löffelte.
Jules tat es Lina gleich, senkte den Kopf und ass schweigend ihr Müsli zu Ende. Sie wollte gerade aufstehen, als Betti sie erneut kleinlaut ansprach: „Entschuldige!“, Betti räusperte sich und beugte sich verschwörerisch nach vorne. „Wir hassen eigentlich Doktor Schmidt. Dir wird bald wieder einfallen oder von Neuem auffallen warum. Sehen wir uns im Gemeinschaftsraum?“
Jules zuckte mit den Schultern, nickte dann zögerlich und meinte vage: „Wir werden sehen, wahrscheinlich schon.“ Betti und Lina standen auf. Betti verliess tänzelnd den Raum, während Lina ihr gelassen hinterherging. An der Tür angekommen drehte sich Lina noch einmal um und winkte ihr zu, ehe sie den Raum verliess.
Jules atmete erleichtert aus und stand auf. Sie fing an, die Tische abzuräumen, so, wie es eine andere Patientin ihr vormachte. Zwischendurch kam eine Betreuerin und gab Jules einen Becher mit Medikamenten, die sie mit einem Glas Wasser hinunterspülte. Dann arbeitete sie weiter.
Es war ein langer Tag für Jules. Sie kam gerade aus der Einzeltherapie mit Doktor Schmidt und fühlte sich gerädert. Jules wunderte sich, ob das an den Medikamenten lag. Eigentlich war sie in ihrem echten Leben ein ziemlicher Wirbelwind, aber hier? Heute hatte sie kaum etwas gemacht und fühlte sich erschöpft. Gerne wäre sie direkt in ihr Zimmer gegangen und hätte sich bereits jetzt schlafen gelegt. Aber sie wollte den Eindruck machen, normal zu sein. Entsprechend hatte sie sich vorgenommen, dass sie das Leben hier so gut es ging mitspielen würde. Sie würde alles tun, um eine positive Prognose zu erhalten. Sie machte sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum.
Jules war im Gemeinschaftsraum angekommen und schaute sich um. Erleichtert stellte sie fest, dass vor allem Betti nicht hier war. Bei dem Gedanken an Betti überkam Jules ein ungutes Bauchgefühl. Sie schaute sich weiter im Gemeinschaftsraum um. Es gab eine Sofalounge, einige Tische, zwei Computer, die auf Tischen an der Wand standen und eine Kaffee- und Tee-Ecke, wo sich jeder bedienen konnte. Daneben stand ein grosses Regal mit ganz vielen Büchern und Spielen. Neugierig stöberte Jules in diesem Regal. Sie griff nach einem Set Karten und setzte sich an einen Tisch. Sie mischte die Karten und legte eine Patience. Das beruhigte sie früher in der Kindheit. Jules war so vertieft in ihre Karten, dass sie nicht merkte, wie Betti den Raum betrat und sich zu ihr setzte.
„Und wie war dein 'erster' Tag hier so.“ Betti mimte mit ihren Händen Anführungszeichen. Ihre Augen leuchteten vor Neugier auf und am liebsten hätte Jules sie wieder weggeschickt und gesagt sie wolle in Ruhe gelassen werden. Lina konnte Jules nicht entdecken.
Ohne von ihren Karten aufzusehen antwortete Jules „Gut und deiner?“ Sie hatte keine Lust, sich mit Betti auseinanderzusetzen, aber noch weniger wollte sie einen Streit mit ihr beginnen.
„Langweilig, wie sonst?", dabei prüfte Betti verstohlen, ob eine Betreuerin in der Nähe war. Als sie feststellte, dass dem nicht so war, sagte Betti so leise wie nur möglich: „Jenny, sag jetzt, ohne Witz, ich muss einfach sicher sein, bist das du oder hat dein Ritual jetzt endlich geklappt?“
Jules runzelte verwirrt die Stirn und flüsterte zurück: „Ritual?“
Betti lehnte sich entspannt zurück und sagte in normaler Lautstärke „Ritual?“ Ihr Lächeln verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, ehe sie weitersprach: „Da musst du dich verhört haben, oder du bist verrückt. Aber wir sind ja alle verrückt, sonst wären wir nicht hier.“ Ohne ein weiteres Wort stand Betti auf, schaute noch einmal mit einem triumphierenden Blick auf Jules hinunter und ging davon.
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