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AutorenbildSamarraLeFay

Tagebuch von Arilia 4

Aktualisiert: 15. Dez. 2022

Fünfundzwanzigster Zuktur, 1320

Geschätztes Tagebuch,


Es ist lange her, seit ich das letzte Mal geschrieben habe. Ich hatte so großen Hunger wie noch nie zuvor in meinem Leben. Der Wald ist grün und überall wachsen bunte Beeren und saftige Pflanzen. Aber bei allem frage ich mich, was davon kann ich essen? Es sieht alles lecker, aber auch tödlich zugleich aus. Ich versuchte mich an den Waldtieren zu orientieren. Ich sah Vögel rote Beeren vom Strauch picken. Ich war nicht sicher, aber ich dachte, wenn ein Vogel die Beere essen konnte, dann ich vielleicht auch. Trotz aller Zuversicht, wollte ich doch Vorsicht walten lassen. Der Plan war, eine einzige Beere zu essen und dann abzuwarten, wie diese mir bekommt. Der Hunger war stärker. Ich aß den halben Strauch leer bis ich wieder bei Sinnen war.

Ich bekam die schlimmsten Bauchschmerzen meines Lebens. Mein Bauch war steinhart und ich konnte vor Schmerzen nicht mehr aufrecht stehen, geschweige denn für eine sichere Nacht auf einen Baum klettern. Ich lehnte mich stöhnend an einen Stamm und wartete bis die Schmerzen vorbeigingen. Diese waren so schlimm, dass ich zwischenzeitlich zweifelte ob sie überhaupt vorbeigehen würden oder ob ich daran sterben würde.

Ich überlebte. Offensichtlich.

Was nach den Bauchschmerzen kam erläutere ich lieber nicht. Jedenfalls bin ich froh gibt es immer wieder kleine Bäche im Wald.

Hunger hatte ich trotz der Schmerzen noch.

Es ist seltsam, aber seit den Beeren fühle ich mich beobachtet. Aber so sehr ich mich anstrenge kann ich niemanden entdecken. Vielleicht wacht der gute Geist des Waldes über mich. Ich wünsche es mir auf jeden Fall. Wahrscheinliche ist, dass mir nur die Einsamkeit zu schaffen macht. Was sich anfangs so befreiend angefühlt hat, ist jetzt eine Last. Mir fehlen die ungezwungenen Worte mit Getrude, die Wortgefechte mit meinen Geschwistern, die Ratschläge meiner Tante und sogar die tadelnden Worte meiner Mutter. Es ist so schlimm, dass ich jedes Mal, wenn ich über eine Wurzel stolpere, und das passiert leider öfter als mir lieb ist, ich mir das hämische Lachen meiner Geschwistern vorstelle und mich dabei ein wenig besser fühle. Ich hätte schwören können ich würde sie niemals vermissen.

Am nächsten Tag lag kaum zehn Schritte von meinem Schlafbaum entfernt ein verletztes Reh. Es muss von einem Wolf angegriffen worden sein. Es klaffte eine große Wunde in der Brust. In der Nacht war das Heulen von Wölfen zu hören, aber dass sie so nahe gewesen waren, war mir nicht bewusst gewesen. Schlief ich doch tiefer als ich dachte? Zum Glück verbrachte ich die Nacht wie gewöhnlich auf einem Baum. Kaum auszumalen was passiert wäre, hätte mich ein Rudel Wölfe in der Nacht überrascht.

Das Reh atmete noch als ich es fand. Ich hörte ein halb ersticktes Röcheln. Die Augen des Rehs weiteten sich in Panik als es mich sah. Mit letzter Kraft versuchte es sich hochzustemmen. Kaum auf den Beinen, sackte es gleich wieder in sich zusammen. Den Todeskampf mit anzusehen war grausam und brach mir das Herz. Wenn ich könnte, hätte ich die Wunde geheilt. Doch mir ist es nicht vergönnt mehr als einen Bienenstich behandeln zu können. Ich sprach beruhigend auf das Reh ein. Vielleicht konnte ich dem Reh so einen Teil seiner Angst nehmen.

Ich bin nicht sicher, ob sie eine sie war, aber es fühlte sich richtig an. Ich strich ihr über das erstaunlich borstige Fell. Ich schaute mir die Wunde genauer an, ohne sie zu berühren. Sie war voll mit Blut und ich konnte Knochen sehen. Es quoll immer mehr Blut aus der Wunde. Die Wunde war tödlich, so viel konnte ich sogar in meiner Unwissenheit erkennen.

Ich konnte sie nicht einfach dort leidend zurücklassen. Ich musste sie erlösen. Es war das Gnädigste. Ich zückte meinen Dolch, lange zögerte ich und ich entschuldigte mich unzählige Male bei ihr. Mehr um mich selber zu beruhigen summte ich die Melodie des Liedes von tausend Sternen im Himmel, welches mir Tante Narilla oftmals vorgesungen hatte. Ich sammelte meine ganze Willenskraft. Meine Hand zitterte so stark, dass ich kaum den Dolch halten konnte. Mit der anderen Hand drückte ich sie so sanft wie möglich nieder. Mit geschlossenen Augen und meiner ganzen Kraft zog ich den Dolch über ihre Kehle. Innert Sekunden war sie tot.

Meine Kleidung war blutverschmiert und mein Gesicht tränennass. Ich musste mir immer wieder laut sagen, dass ich das Richtige getan hatte. Ich sass lange regungslos neben ihr, bis ich einen Wolf heulen hörte. War es dieser Wolf gewesen? Er durfte sie nicht bekommen! Es war ungerecht und grausam. In diesem Moment hasste ich alle Wölfe. Wenn ich ihn gesehen hätte, ich hätte nicht gezögert mit meinem Bogen auf ihn zu schießen.

Aber sie! Sie sollten die Wölfe nicht bekommen. Ich musste sie begraben. Ohne Schaufel nicht ganz einfach. Da blieb nur ein Steingrab. Ich suchte nach den alten Riten die passenden Steine. Es dauerte fast den ganzen Tag, aber sie war es Wert gewesen.

Erst am Abends auf dem Baum, erinnerte ich mich daran, dass Rehbraten eines meiner Lieblingsgerichte gewesen war. Aber als sie leidend vor mir lag, sah ich nur ein Wesen das Schutz benötigte. Sie hatte Wimpern, so lang wie es sich jede Frau nur wünschen konnte. Sie unterschied sich gar nicht so sehr von mir. Zwei Augen, Nasen, Ohren, ein pochendes Herz, rotes Blut und den unbändigen Willen leben zu wollen. Nur schon beim Gedanken daran Teile von ihr zu essen, wird mir immer noch ganz schlecht. Was gab uns das Recht zu glauben wir dürfen solch wundervolle Geschöpfe essen?

Als Antwort rumorte mein Bauch und ich spürte ein Stechen hinter der Stirn. Ich musste wirklich bald etwas zu Essen finden. Mir schummerte bereits der Kopf. Aber ich werde kein Lebewesen des Waldes essen. Nie mehr!

Am nächsten Tag fand ich nicht weit von meinem Baum einen toten Hasen. Ich sprach ein kleines Gebet für ihn und begrub ihn dann auch, wie ich sie begraben hatte. Warum starben um mich herum die Tiere? Bin ich verflucht?

Auf der Suche nach Steinen für den Hasen fand ich glücklicherweise eine Buche, die bereits früh ihre Nüsse verloren hatte. Eigentlich war es noch viel zu früh für Nüsse. Diese Buche hier machte wohl eine Ausnahme. Das erste Mal seit Tagen war ich wirklich satt. Ich hätte nie gedacht, dass man von Buchennüssen satt werden kann. Und mehr noch, sogar mein Beutel ist noch prall gefüllt mit Buchennüssen. Vielleicht beschützt mich tatsächlich der Geist des Waldes.

Heute fand ich essbare Pilze. Zumindest sahen sie so aus wie die Pilze in Getrudes Küche. Ich dachte an ihren sämigen Pilzeintopf und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Nur zu gerne hätte ich einen Eintopf mit den Pilzen gemacht, aber ich habe nicht daran gedacht Kochgeschirr mitzunehmen. Ich machte also einfach ein Feuer und spiess die Pilze auf. Sie haben mich trotzdem gesättigt.

Zwei Tage in folge satt zu sein verbuche ich als Erfolg. Und jetzt? Jetzt wünsche ich eine gute Nacht.



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